Jazz und Blues auf dem Bösendorfer: Grandiose Marialy Pacheco sorgt für eine Sternstunde

Schwerte. Marialy Pacheco hat am Sonntag die „Sternstunden am Bösendorfer“ bespielt - ein Format, das die Konzertgesellschaft Schwerte und die Rohrmeisterei schon seit langem anbieten. Jetzt wollen Sie wissen, wie die 1983 auf Kuba geborene Pianistin war, nicht? Die Antwort: Grandios! Wann ist jemals auf dem Bösendorfer ein Blues gespielt worden? Wann haben sich jemals auf diesem Instrument Jazz und kubanische Rhythmen vereinigt? Wann hat man jemals das Wiegenlied von Johannes Brahms so jazzig gehört? Und vor allem so schön? Den musikalisch ebenso genussreichen wie intensiven Vormittag hat diesmal Georg Nebel für den Blickwinkel beschrieben. Er ist selbst Pianist, kommt aus dem Jazz und gilt in diesem Genre als ausgewiesener Experte. Und der Konzertgesellschaft kann man nur zurufen: Gehen Sie bitte diesen Weg weiter. Die Sternstunde am Bösendorfer mal abseits der Klassik zu erleben, ist auch eine Sternstunde. Marialy Pacheco war am Sonntag der lebendige Beweis dafür.

Georg Nebel

Der Bericht von Georg Nebel

Sonnig-vorsommerlich gab sich der 8.Mai, mit luftig-bunten Sommerkleid und geschnürten High-Heels gab sich die junge kubanische Pianistin Marialy Pacheco (*1983) professionell-leger. Kann man mit solchem Schuhwerk überhaupt das Halte-Pedal bedienen?

Pünktlich um 11:00 beginnt Pacheco ihr Konzert – natürlich ohne Noten und ohne konkrete Programmfolge, denn obschon sie z.B. von traditionellen kubanischen Stücken ausgeht, sind ihre Improvisationen spontan und aus dem aktuellen Moment heraus inspiriert. Um 11:01 ist klar: diese Pianistin wird ohne Kaschierungen auskommen, „matscht“ nichts zu: Pur perlen die Melodie-Linien aus dem hervorragenden Bösendorfer der Konzertgesellschaft, klar kommen die Begleitmuster der linken Hand. Pedal wird nur benutzt, wenn die Musik es wirklich erfordert. Diese Künstlerin weiß im rhythmisch-wahrsten Sinne exakt was sie tut, und sie hat etwas zu sagen.

Kopfmusik? Keineswegs!

Eröffnet wird mit der Eigenkomposition Güajira para Tulio, geprägt durch ein mittelschnelles Ostinato im für westfälische Ohren ungewohnten weil alternierenden Metrum, 3+3+4 Viertel. Kopfmusik? Keineswegs, denn Pacheco‘s Spiel fließt völlig natürlich. Die Pianistin singt ihre melodischen Linien auch weitgehend mit – ein weiteres Indiz für befreites Klavierspiel. Inneres Empfinden wird ungebremst zu äußerem Klang. Das Konzertgesellschaft-Publikum darf einer Viertelstunde Weltklasse-Weltmusik lauschen. Marialy Pacheco lächelt, erfreut sich selbst an jedem ihrer Töne, sehr auch zur Freude der Zuhörer. Es gibt wahrlich Schlimmeres, was man sich sonntags morgens ansehen und anhören könnte.

Eigenständiges improvisatorisches Konzept

Und das musikalische Niveau des Konzertes lässt nicht nach: Im rasanten Mambo Inn des italienischen Trompeters Mario Bauza spielt sich die mehrfach-ausgezeichnete Pianistin (u.a. Erster Preis „Piano Solo Competition“ beim Jazz Festival Montreux) endgültig warm, um anschließend in einem langsamen Blues aus der Feder Mercer Ellingtons, Sohn und Nachfolger des berühmten amerikanischen Big Band-Leiters Duke Ellington, ihr eigenständiges improvisatorisches Konzept offenzulegen. Ausgerechnet über einen Blues –das archetypische Konzept afro-amerikanischen Musikverständnisses– soliert Pacheco gänzlich ohne „Blue Notes“. Solche Prall-Noten sind ohnehin rar in ihrer geschmackvoll-nuancierten Artikulation, und auch sonst ist ihr Blues-Feeling nicht stereotypisch-leidend bis solidarisch-mitnickend, sondern blumig-fröhlich bis charmant-tänzerisch. Eine siebenminütige mal-ganz-andere Wahrheit aus und über Blues, die nichts beweisen muss und nichts schuldig bleibt – großartig.

Überragendes Konzert

Mehr geht nicht? Wohl. Das kubanische Wiegenlied Mama Inés, in welchem vermeidlich-kitschige ausgeterzte melodische Phrasen über z.T. atonaler Begleitung schwelgen, gelingt so überragend gut, der Interpretin selbst anschließend vor Freude dreimal in die Hände klatscht – völlig berechtigt, denn selten hört man Klaviermusik, in der rechte und linke Hand nahezu unabhängig voneinander agieren und dennoch ein überzeugendes Ganzes bilden. Den besinnlichen Abschluss, pünktlich zur Mittagsstunde, bildet Guten Abend, gut‘ Nacht von Johannes Brahms, wiederum unnachahmlich neu interpretiert von Marialy Pacheco, die damit das Publikum in den Muttertag verabschieden möchte, dies aber erst nach zwei weiteren Zugaben –dem kubanischen Evergreen Peanut Vendor sowie ihrer Version von Paul Simon’s Sound of Silence– darf.

Ein überragendes Konzert auf allerhöchstem Niveau, dargeboten von einer Künstlerin von internationalem Rang, musikalisch spannend und unterhaltsam in jeder Sekunde bis zum allerletzten Ton, Jazz in individuellem Ausdruck ohne Scheuklappen und ohne Grenzen – eine echte Sternstunde am Bösendorfer, plus Nachspielzeit.

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